Mittwoch, 9. Mai 2012

ROYAL TS E N G A G E M E N T ! ! !

Der Gartenzaun


Der Samstagmorgen war gekommen und die ganze sommerliche Welt war frisch und mit überströmendem Leben erfüllt. In jedem Herzen war ein Lied; und falls dieses Herz jung war, so drang das Lied auch auf die Lippen. In jedem Gesicht stand Fröhlichkeit und jeder Schritt wie eine Feder. Die Robinien blühten und ihr Duft erfüllte die Luft. Der Cardiff-Hügel, hinter und über der Stadt gelegen, war voller grüner Vegetation und er lag weit genug entfernt, um als „Gelobtes Land“ zu erscheinen, träumerisch, ruhevoll und einladend.
Tom erschien auf dem Bürgersteig mit einem Eimer voller Weißkalk und einem langstieligen Pinsel. Er besah sich den Zaun – und der Glanz schwand aus der Natur und eine tiefe Melancholie legte sich auf seine Seele. Ein Zaun: 30 Yard lang und 3 Yard hoch!! Das Leben schien ihm hohl und sein Leben eine einzige Last. Seufzend tauchte er den Pinsel ein und ließ ihn über die oberste Planke gleiten; er wiederholte es einmal und noch einmal. Nun verglich er den kleinen und unbedeutenden Streifen Tünche mit dem weiten Kontinent des noch nicht gestrichenen Zaunes und setzte sich entmutigt auf eine Baumverschalung. Aus dem Tor kam Jim mit einem Blecheimer in der Hand und sang das Lied „Buffalo Gals“. Wasser von der Gemeinde-Pumpe war in Toms Augen immer eine schreckliche Arbeit gewesen, aber nun kam es ihm gar nicht mehr so vor. Er dachte nämlich daran, dass man bei der Pumpe immer in Gesellschaft war. Weiße, schwarze und Mulatten-Kinder warten dort immer zusammen, bis sie an der Reihe waren – tauschten Spielsachen, prügelten sich herum oder taten gar nichts. Und es fiel ihm ein, dass Jim nie vor einer Stunde zurückkam, obwohl die Pumpe nur etwa 150 Yards entfernt war. Oftmals musste jemand ihn sogar von dort zurückholen. So sagte Tom: „Sag mal, Jim, was hältst du davon: Ich hole das Wasser, und streichst ein wenig.“
Jim schüttelte den Kopf und sagte: „Geht nicht, Master Tom. Die alte Missis hat gesagt, ich soll gehen und das Wasser holen und keine Dummheiten soll ich mit niemandem machen. Und sie hat gesagt, dass Master Tom würd mir sagen, ich soll den Zaun streichen, aber ich soll weitergehen und mich nicht drum kümmern – und um das Streichen wird sie sich kümmern.“
„Aber scher dich doch nicht um das, was sie gesagt hat, Jim. So redet sie immer. Gib mir den Eimer – ich bin keine Minute weg. Sie wird’s gar nicht merken.“
„Oh nein, Master Tom. Die alte Missis reißt mir den Kopf ab, ganz sicher.“
„Die! Die haut doch niemanden – da kriegste nur ein wenig mit dem Fingerhut auf den Kopf – aber wen stört’s? Schimpfen, ja schimpfen tut sie ordentlich, aber Schimpfen tut nicht weh. Weißt du, was Jim? Ich geb dir ne Murmel, eine schöne weiße Glasmurmel, die geb ich dir.“
Nun wurde Jim doch schwankend.
„Ein weiße Glasmurmel, Jim, und die läuft ganz prima.“
„Ach, das ist ja eine prima Murmel, das muss ich schon sagen. Aber, Master Tom, ich hab Angst vor der alten Missis.“
 
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Doch der gute Jim war auch nur ein Mensch – die Anziehungskraft dieser Murmel war einfach zu groß. Er setzte den Eimer ab und nahm die weiße Glasmurmel … und im schon nächsten Moment flog er mit dem Eimer in Richtung Straße, denn Tante Polly war aufgetaucht und hatte ihm mit dem Pantoffel eins auf den Hintern gegeben. Tom strich nun, was das Zeug hielt – und Tante Polly zog sich triumphierend mit ihrem Pantoffel aus dem Schlachtfeld zurück.
Aber Toms Energie hielt nicht lange an. Alle die vergnüglichen Dinge, die er für heute geplant hatte, fielen ihm ein – und sein Kummer wurde immer und immer größer. Bald schon mussten all die Jungen, die frei waren, auf allen möglichen wunderbaren Expeditionen hier bei ihm vorbei kommen und sie würden ihn furchtbar auslachen, weil er arbeiten musste. Schon der Gedanke daran brannte wie ein Feuer in ihm. Er holte seine Schätze aus der Tasche hervor und betrachtete sie: Teile von Spielsachen, Murmeln und allerlei Plunder; genug vielleicht, um jemanden die Arbeit schmackhaft zu machen, sich einen kurzen Arbeitstausch zu erkaufen, aber nie genug, um auch nur mehr als eine halbe Stunde wirklicher Freiheit zu erhandeln. So steckte er alles wieder ein und gab den Gedanken auf, die Jungen zu kaufen. In diesem düsteren Moment hatte er eine Eingebung. Er nahm den Pinsel und fing wieder ruhig an zu arbeiten.

Kurz darauf bog Ben Rogers um die Ecke. Ben Rogers war der Junge, vor dessen Spott er sich am meisten gefürchtet hatte. Ben kam gehüpft und gesprungen, was Tom ein Beweis dafür war, dass sein Herz leicht und voll froher Erwartungen war. Er kaute an einem Apfel und gab in kurzen Abständen Geräusche von sich: ein langes melodisches Heulen, gefolgt von einem Bim-Bam-Bim-Bam. Kein Zweifel, er stellte einen Dampfer da. Als er näher kam, drosselte er die Geschwindigkeit, hielt sich in der Straßenmitte, zog herüber nach Steuerbord und drehte mit großem Aufwand bei. Es war der „Big Missouri“ und Ben war Dampfer, Schiffsglocke und Kapitän in einem.
„Stopp, Sir! Bim-bim-bim.“ Er steuerte langsam auf den Bürgersteig zu. „Maschine volle Kraft rückwärts! Bim-bim-bim! Steuerbord achteraus! Bim-bim-bim! Sch-sch-sch! Sch-sch-sch!“. Seine rechte Hand kreiste umher, denn sie war ja ein riesiges vierzig Fuß hohes Schaufelrad. „Steuerbord, stopp! Bim-bim-bim! Backbord, stopp! Das äußere Rad langsame Fahrt! Bim-bim-bim! Sch-sch-sch! Bugleine raus, Spanntau raus. Vertäut das Doppelpart am Poller. Alle Maschinen stopp! Tschschtsch!“ Das waren die Dampfhähne.


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Tom strich und strich und kümmerte sich nicht um den Dampfer. Ben sprach ihn an: „Hey, steckst wohl in der Klemme, was?“ Keine Antwort. Tom trat einen Schritt zurück und wie mit dem Auge eines Künstlers betrachtete er seinen letzten Strich. Und er tauchte den Pinsel noch mal ein, strich nochmals mit leichtem Schwung darüber hinweg und betrachtete nochmals sein Werk. Ben stand neben ihm. Beim Anblick des Apfels lief Tom das Wasser im Mund zusammen, aber er blieb stur bei seiner Arbeit. Da sagte Ben: „Hey, alter Junge, haben sie dich zum Arbeiten drangekriegt?“.
„Ach du bist’s, Ben. Hab dich gar nicht gehört.“
„Ich geh schwimmen, hörst du? Kommst du mit oder willst du lieber hier weiterschuften?“
Tom sah Ben an und fragte: „Schuften? Was nennst du schuften? Was für eine Arbeit?“
„Das ist also keine Arbeit, was du hier machst?“
Tom machte sich wieder ans streichen und meinte gleichgültig. „Naja, vielleicht ist es Arbeit, vielleicht auch nicht. Ich weiß nicht. Ich weiß nur eines: Tom Sawyer gefällt’s.“
„Komm, hör auf! Du kannst mir doch nicht einreden, dass dir das hier Spaß macht!“
Der Pinsel fuhr weiter.
„Ob’s mir Spaß macht? Warum sollte es mir keinen Spaß machen? Bekommt man als Junge denn jeden Tag einen Zaun zu streichen?“
Nun sah die Sache plötzlich anders aus. Ben hörte auf, an seinem Apfel zu knabbern. Tom schwang seinen Pinsel wieder elegant hin und her, trat zurück, tat einen Tupfer hier und einen Tupfer dort, trat von neuem zurück. Ben beobachtete seine Bewegungen genau und nach und nach interessierte ihn die Sache mehr und mehr, ja fesselte ihn sogar. Nach einer Weile sagte er: „Du, Tom, lass mich doch auch mal ein bisschen streichen.“
Tom dachte nach und war schon drauf und dran, zuzustimmen. Aber dann überlegte er es sich anders. „Nein, nein, das geht nicht, Ben. Schau, Tante Polly nimmt’s immer ganz genau mit ihrem Zaun. Der steht doch hier direkt an der Straße – wenn’s nach hinten raus wäre, würde es nicht drauf ankommen. Aber hier, hier muss der Zaun sorgfältig gestrichen werden. Und ich sage dir: Von tausend Jungen ist keiner imstande, es so zu machen, wie es sein soll – ja, nicht einmal einer von zweitausend!“
„Tatsächlich? Ach komm schon! Lass mich doch ein bisschen versuchen, nur ein kleines bisschen. An deiner Stelle würd ich dich lassen, Tom.“
„Ben, ich würd’s ja gerne tun, aber Tante Polly! Jim wollte auch schon und sie hat ihn nicht gelassen. Sid wollte auch und auch ihn hat sie nicht gelassen. Siehst du, wie sehr ich in der Klemme sitze? Du machst dich dran, und dann passiert etwas …“
„Dummes Zeug, ich bin ganz vorsichtig. Lass mich doch mal versuchen, bitte! Hier – du kriegst auch ein Stück Apfel von mir.“
„Lieber nicht … ich hab Angst …“
„Ich lass dir den ganzen!“
Tom gab Ben den Pinsel. Er tat das widerstrebend – aber er war froh dabei. Und nun arbeitete und schwitzte der frühere Dampfer „Big Missouri“, während Tom sich im Schatten auf ein Fass setzte, mit den Beinen baumelte und den Apfel aufaß. Dabei überlegte er, wie er noch weitere Jungen überzeugen konnte. Schließlich schlenderte stets eine Menge Jungen vorbei.

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Als Ben fertig und müde war, kam Billy Fisher für einen gut erhaltenen Drachen an die Reihe, und als dieser sich ausruhen musste, kaufte sich Johnny Miller ein mittels einer toten Ratte samt Schnur, an der man sie herumwirbeln konnte. Und so ging es weiter, Stunde um Stunde. Als schließlich der Nachmittag halb um war, da war aus dem armen Tom am Morgen ein reicher Junge geworden. Neben den erwähnten Dingen besaß er nun zwölf Murmeln, den Teil einer Mundharmonika, eine Scherbe blaues Glas, durch die man hindurch sehen konnte, einen Revolver, einen Schlüssel ohne passende Tür, ein Stück Kreide, den Glasstöpsel einer Karaffe, einen Zinnsoldaten, zwei Kaulquappen, sechs Knallfrösche, ein einäugiges Kätzchen, einen Türgriff aus Messing, ein Hundehalsband ohne Hund, einen Messergriff, vier Orangenschalen und einen verrotteten alten Fensterrahmen. Während der ganzen Zeit hatte er gefaulenzt und eine Menge Gesellschaft genossen – und nun bedeckte den Zaun eine dreifache Schicht Farbe! Wäre Tom nicht die Farbe ausgegangen, hätte er am Ende sämtliche Jungen des Ortes Bankrott gemacht.
Die Welt ist doch nicht hohl und leer, sagte sich Tom. Ohne es zu wissen, hatte er ein wichtiges Gesetz entdeckt, das das menschliche Handeln bestimmt: Man muss, um das Begehren der Menschen – Männer oder Jungen – zu wecken, die Sache schwer erreichbar machen. Er hatte, auch ohne es zu wissen, den Unterschied zwischen Arbeit und Spiel entdeckt: Das, was man tun muss, ist die Arbeit, das, was man nicht tun muss, ist Spiel. Sonst hätte er nun erkannt, warum es Arbeit ist, Papierblumen herzustellen oder in einer Tretmühle zu arbeiten, warum es aber Spiel ist, Kegeln zu gehen oder den Montblanc zu besteigen. Es gibt in England reiche Herren, die im Sommer große vierspännige Kutschen dreißig Meilen weit lenken, nur weil es sie viel Geld kostet. Gäbe man ihnen aber Geld für diese Tätigkeit, würde er zur Arbeit werden, und sie würden die Finger davon lassen…

In :Mark Twain, Die Abenteuer des Tom Sawyer, 1876

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